Oder: «Lasst uns schlechte Qualitätssicherung betreiben»
Gute Medizinische Qualitätssicherung (MQS) erzeugt medizinischen Fortschritt durch Transparenz und Sicherheit. Analog zu Paul Watzlawicks «Anleitung zum Unglücklichsein» zeigen wir im folgenden Gedankenexperiment auf, wie gezielt schlechte MQS betrieben werden kann. Eine Anleitung zu wirklich guter MQS zu geben, ist genauso schwierig, wie den Weg zum Glück zu beschreiben. Hingegen können wir ein paar einfache Tipps geben, wie Sie mit Sicherheit schlechte MQS erzeugen können.
Autoren: Luzi Rageth, Florian Nyffenegger, Bernd Sadlo. Illustrationen: Alex Hanimann
«Unglücklich sein kann jeder; sich unglücklich machen aber will gelernt sein, dazu reicht etwas Erfahrung mit ein paar persönlichen Malheurs nicht aus» (1), schreibt Paul Watzlawick in seiner ironischen Abhandlung zur Erhaltung des Unglücks. Analog dazu verhält es sich in der Qualitätssicherung. Neben den bekannten Hemmschuhen wie fehlenden Ressourcen, kleinen Stichproben und technischen Problemen hat die MQS auch ihre systematischen natürlichen Feinde. Diese haben wir von der AQC Arbeitsgemeinschaft für Chirurgie seit ihrer Gründung 1995 immer wieder beobachten können. Möchte man schlechte MQS betreiben, dann müsste man sich dieser Feinde ganz gezielt bedienen.
Feind Nr. 1: Egoismus
Der erste, offensichtliche Feind der MQS ist der Egoismus. Wer kennt sie nicht, die Faulheit, die umgangssprachlich auch «innerer Schweinehund» genannt wird. Sie gilt es zuerst zu überwinden, bevor man gute MQS betreibt. «Nobody is perfect, warum soll ich es sein?», flüstert die innere Stimme, die zu Trägheit und Mittelmass verführt. Leicht wird auf morgen verschoben, was heute schon getan werden müsste. Für schlechte MQS noch effizienter ist das dauerhafte Wegschauen von den Tatsachen, denen eigentlich offenen Auges begegnet werden müsste. Underperformance wird so nicht durch Transparenz bekämpft, sondern durch Vertuschen immer grösser.
Eine weiter entwickelte Form des Egoismus ist der Narzissmus. Was ich selbst nicht erfunden habe, kann nicht gut sein. Das «Not Invented Here»-Syndrom“ bezeichnet diese Haltung, die narzisstisch genährten Neid hervorbringt. Und so wird, vom süssen Gift der destruktiven Macht angestiftet, schlecht gemacht, was doch eigentlich gut wäre.
Doch wirklich gefährlich ist der Egoismus nicht. Als Triebfeder unseres Handelns können wir ihm konstruktiv begegnen und ihn sogar aushebeln. Alleine taugt er somit nicht, schlechte MQS zu bewirken.
Feind Nr. 2: Ignoranz
Als zweiten natürlichen Feind der MQS kennen wir die schon wesentlich wirkungsmächtigere Ignoranz. Eine häufig anzutreffende Ausprägung der Ignoranz ist diejenige, welche sich gegenüber berechtigten Ansprüchen, z.B. von Patienten oder Finanzierern, manifestiert. Da tritt er jäh wieder in Erscheinung, der schon totgesagte «Halbgott in Weiss», der niemandem ausser sich selbst – wenn überhaupt – Rechenschaft schuldig ist. Der Chefarzt einer Universitätsklinik, von unnötigem Selbstzweifel befreit sagte dazu einmal: «Ich brauche keine Qualitätssicherung, ich bin Qualitätssicherung!»
Zur Ignoranz zählt auch das Halbwissen darüber, was der Controlling-Begriff, welcher der MQS zugrunde liegt, bedeutet und zu bewirken vermag. Controlling kommt nicht etwa von Kontrollieren, wie dem Halbgebildeten in den Sinn fallen könnte, sondern von «to control», also steuern. Dabei wird im Controlling, wie auch in der MQS, zuerst Selbststeuerung angestrebt. Dies steht allerdings im Widerspruch zu Fremdsteuerungsphantasien, welche sich bei Lesern der Boulevardpresse und Bürokraten grösster Beliebtheit erfreuen. Wer sich daran nicht stört, dass solchermassen gewachsene Berge bloss Mäuse gebären, dem kann falsch verstandenes Controlling wärmstens empfohlen werden, um schlechte MQS zu schaffen. Nirgends sonst lassen sich so erfolgreich Ressourcen an Zeit, Geld und Energie verschwenden.
Ginge es nach dem Willen der Bürokraten, so könnten die von ihnen ausgedachten Cockpits gleich selber fliegen. Wäre diese «Ignoranz der Macht» erfolgreicher und mächtiger, so käme es wie bei den Beratern heraus: Ein Hase rennt übers Feld und schreit «Hilfe, Hilfe, die Berater sind hinter mir her. Sie hacken allen fünfbeinigen Hasen ein Bein ab». «Keine Sorge, Du hast doch nur vier Beine». «Ja, aber erst hacken sie, dann zählen sie!» Die stärkste Form der Ignoranz, welche rundum verunsichert und damit so richtig schlechte MQS generiert, ist das Festhalten am einmal eingeschlagenen falschen Weg – siehe zum Beispiel Statistiken zu einem einzigen, losgelösten Qualitätsindikator.
Feind Nr. 3: Dilettantismus
Mit dem Egoismus «kann umgegangen werden» und mit der Ignoranz «wird umgegangen», d.h. sie wird durchs System ausgefedert. Wogegen aber kaum ein Kraut gewachsen ist, ist der Dilettantismus: ein sicherer Wert für schlechte MQS.
«Basteln wir uns doch mal einen Fragebogen», generiert in der Umsetzung immer wieder interessante Resultate, bloss keine gute MQS. «Legen wir doch mal alle Daten offen und verwenden die selbstdeklarierten Daten gegen die Erhebenden», ist ebenfalls reiner Dilettantismus. Verbreitet ist auch die Meinung, jeder könne, gewissermassen als Freizeitbeschäftigung, sein eigenes Register aufbauen. So werden unter falschen Prämissen falsch erhobene Daten falsch interpretiert und – publiziert.
In der Diskussion über die Veröffentlichung von Qualitätssicherungsdaten wird oft die Industrie als Beispiel herangezogen. In der Industrie kommt zwar niemand auf die Idee, die interne Betriebsbuchhaltung einfach offenzulegen. Die öffentliche Rechenschaftslegung, z.B. von Bilanz und Erfolgsrechnung, ist gesetzlich genau geregelt. Wer gegen diese Bestimmungen verstösst, wird verfolgt. Bei der Publikation von Qualitätssicherungsdaten gelten jedoch bislang keine solchen Bestimmungen. Solange dies der Fall ist, muss damit gerechnet werden, dass publizierte Daten geschönt, ja dass spätestens in der zweiten oder dritten Publikationsrunde munter gefälscht wird. Schlechte MQS wird dadurch geradezu perfektioniert.
Eine besonders effiziente Form des Dilettantismus ist das Aufsitzen auf populistischen Projekten, die sich durch überzogene Ziele, fehlende Transparenz und ungeeignete, meist auch noch proprietäre Technologie auszeichnen. Je mehr Geld der Qualitätssicherung zur Verfügung steht, desto mehr schiessen solche Projekte zur allgemeinen Verunsicherung ins Kraut. Da wird kein Unterschied zwischen internen und öffentlichen Daten gemacht, und es findet keine Integration in die bestehende Qualitätssicherungslandschaft statt. Weit verbreitet ist die Vorstellung, das Rad müsse angesichts grosser Budgets auf der grünen Wiese neu erfunden werden, am besten gleich viereckig und reibungsfrei.
Und was behindert schlechte MQS?
Wenn also Egoismus, Ignoranz und Dilettantismus die natürlichen Feinde der guten MQS sind und zu schlechter MQS führen, so stellt sich, Ironie einmal beiseite geschoben, die ernsthafte Frage, was dagegen unternommen werden kann.
Gegen den Egoismus steht die Freude an der schönen Aufgabe, die intrinsische Motivation, welche beim Erlernen des medizinischen Berufes ganz am Anfang steht. «Ich will und kann es besser machen» und «Ich will mich messen lassen» sind ein wirksames Antidot gegen schlechte MQS.
Gegen die Ignoranz stehen geistige Offenheit, Wissbegierde und Forschungsdrang. Zudem braucht es den Mut zur Ehrlichkeit, welche schon die mutigen Pioniere der Qualitätssicherung Codman und Semmelweis auszeichnete. Ebenso sollen die Erfordernisse unserer Zeit akzeptiert werden. An erster Stelle sollte der Patient als mündiger Zeitgenosse ernst genommen werden.
Gegen den Dilettantismus steht der tiefe Respekt vor der ärztlichen Aufgabe. Im ursprünglichen Sinn des Dilettantismus (2) soll echtes Vergnügen am Beschreiten neuer Wege gefördert werden, wobei bewährte Instrumente der Qualitätssicherung nicht unbesehen übergangen, sondern weiterentwickelt werden sollen. Solchermassen betriebene gute MQS kann allen Beteiligten Sicherheit geben und zur Steigerung von Effizienz und Effektivität in der Medizin beitragen. Schlechte MQS dagegen verunsichert und versperrt den Blick – und das sehr effektiv und effizient, analog zu Watzlawick: ein
echter Hammer!
(1) Paul Watzlawick, «Anleitung zum Unglücklichsein», R. Piper & Co. Verlag, München, 1983, ISBN 3-423-30367-0
(2) Dilettantismus kommt aus dilettare (ital.), sich freuen.